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AutorenbildLacerta Bilineata

Die Gelbgrüne Zornnatter und ihre Beute


GELBGRÜNE ZORNNATTER (HIEROPHIS VIRIDIFLAVUS), TESSIN, 09-2021
GELBGRÜNE ZORNNATTER (HIEROPHIS VIRIDIFLAVUS), TESSIN, 09-2021

Bei der Schlange auf dem Foto oben handelt es sich um eine Gelbgrüne Zornnatter (Hierophis Viridiflavus). Das Reptil gehört zu den grössten Schlangen der Schweiz und sogar Mitteleuropas und kann in seltenen Fällen bis fast 2 Meter lang werden. Die Art ist normalerweise äusserst scheu; meiner Erfahrung nach flieht sie mit enormer Geschwindigkeit, sobald sie spürt oder sieht, dass sich ein Mensch nähert. Da sie aber eine eher weite Fluchtdistanz hat, fühlt sich die Zornnatter unter Umständen schon in die Ecke getrieben und geht anstelle von Flucht zum Drohen - und auch Angriff - über, wenn die meisten anderen Schlangenarten eine direkte Konfrontation immer noch vermeiden würden.


Ihren Namen "Zornnatter" hat die Schlange denn auch ihrem Temperament zu verdanken: wenn sie keinen Ausweg mehr sieht, zischt sie laut und richtet sich auch mal auf wie eine Kobra, und wenn das nicht hilft, beißt sie zu, wobei sie sich manchmal regelrecht "verbeisst" und nicht mehr loslässt (aber nur um das klarzustellen: Zornnattern sind ungiftig und völlig harmlos - sie ziehen einfach einen sehr guten "Bluff" ab ;-) Die Schlange auf dem Foto hatte mich definitiv gesehen (wahrscheinlich lange bevor ich sie sah), und wer denkt, dass sie in der Tat etwas zornig aussieht, liegt wahrscheinlich nicht ganz falsch: sie hat sich sicher nicht gefreut, mich zu sehen. Und trotzdem ist das Tier nicht geflohen. Es war Anfang September und ich war gerade dabei, das ausgedehnte Heckenkirschengebüsch direkt vor meinem Garten im Tessin mit dem Fotoapparat nach Smaragdeidechsen abzusuchen (die lokale Eidechsen-Population liebt diesen Strauch, und es findet sich fast immer eine Smaragdeidechse der Art Lacerta bilineata darin), als ich plötzlich feststellte, dass ein krummer Ast, der sich über einen Teil des Strauchs erstreckte, Schuppen hatte.



Da die Schlange noch nicht geflüchtet war, glaubte ich, sie hätte mich nicht bemerkt und nahm fälschlicherweise an, ihr Kopf sei am von mir aus gesehen weiter entfernten Ende des Körpers (beide Körperenden der Schlange waren im Laub verborgen, wie man auf dem Foto sehen kann). Als ich dort aber keinen Kopf entdecken konnte, wurde mir klar, dass er wohl doch am mir näheren "Schlangenende" sein musste und dass das Tier mich daher unmöglich nicht bemerkt haben konnte, denn dieses nähere Ende war nur etwa 1.5 Meter von mir entfernt und genau auf mich gerichtet. Da ich den Schlangenkopf aus meiner Perspektive aber nicht sehen konnte, ging ich etwas in die Knie, um unter die Blätter zu schauen. Nun sah ich mich direkt einem Augenpaar gegenüber, das mich mit dem intensiven Blick fixierte, den man auf dem Foto sieht.



Wieso das Reptil jedoch nicht floh, war mir ein Rätsel: ich hatte während über 30 Jahren und vieler Begegnungen mit Zornnattern nie erlebt, dass ein Tier sich so verhielt. Aber natürlich war ich dankbar, denn es ist nicht leicht, eine Nahaufnahme von einer Schlange zu machen, die normalerweise so scheu ist. Und dann sah ich den Grund für das auffällige Verhalten: Nur 80 Zentimeter von der Schlange entfernt sonnte sich eine grosse männliche Smaragdeidechse. Jetzt wurde mir alles klar: Ich hatte die Natter offensichtlich genau in dem Moment gestört, als sie sich auf ein saftiges Echsenmahl vorbereitete. So sehr meine Anwesenheit für die Schlange Stress bedeutete, sie war schlicht nicht bereit, eine so gute Gelegenheit auf ein Festessen in den Wind zu schlagen und hoffte wohl, ich würde einfach weitergehen. Die Smaragdeidechse döste währenddessen friedilich mit halbgeschlossenen Augen auf ihrem Ast und hatte weder mich noch die Jägerin bemerkt, auf deren Mittagsmenu sie stand.


Smaragdeidechse (Lacerta bilineata) beim Sonnenbad im Gebüsch
Smaragdeidechse (Lacerta bilineata) beim Sonnenbad

Nun befand ich mich in einem Dilemma. Mein Problem: Smaragdeidechsen sind meine erklärten Lieblingstiere, und obwohl ich auch ein grosser Schlangenfreund bin, ist mir die kleine lokale Smaragdeidechsenpopulation - die unentwegt von den vielen Katzen im Dorf belagert und leider auch dezimiert wird und immer kurz vor dem Verschwinden steht - besonders ans Herz gewachsen. Ich beobachte die Tiere seit vielen Jahren, und der Verlust eines jeden geht mir wirklich nahe. Aber anders als bei der Bedrohung durch die Katzen (was ein menschliches Problem ist, an dem die Katzen - die ich als Haustiere sehr gerne mag - keine Schuld tragen), war diese Schlange ja ein natürlicher Feind, der nur Hunger hatte; ich wusste also, dass es mir nicht zustand, in die Natur einzugreifen.

Nun ist es jedoch eine Sache, zu wissen, was richtig ist - und eine ganz andere, das Richtige auch tatsächlich zu tun. Zu meiner Schande entschied ich mich nämlich, genau das zu machen, was ich als leidenschaftlicher Naturbeobachter sonst immer aufs Heftigste verurteile: ich beschloss, die Smaragdeidechse zu retten. Ich bin wahrlich nicht stolz auf mein Verhalten und es gibt hier nichts schönzureden, aber vielleicht bringt euch eine Schilderung meiner nachfolgenden, unsagbar dümmlichen Herangehensweise wenigstens zum Schmunzeln. Die Zornnatter mit einem Zweig oder dergleichen wegzuscheuchen kam für mich nicht in Frage (ihr seht, wenigstens einen Funken ethischer Grundsätze war bei mir immerhin noch vorhanden, auch wenn es das nicht besser macht). Stattdessen kam ich auf die glorreiche Idee, die Aufmerksamkeit der Smaragdeidechse zu erregen. Dies zu erreichen versuchte ich (und ich schwöre, das ist die reine Wahrheit), indem ich eine wellenartige Bewegung mit meinem Arm und meiner Hand machte. Schliesslich war dies die unmissverständliche Geste für "SCHLAAANGEE!!!", die die Mensch-Eidechse Kommunikationsbarriere problemlos überwinden würde - und das hätte sie auch (darauf bestehe ich!), aber dummerweise pennte Herr Smaragdeidechse und hatte nun die Augen sogar ganz geschlossen. Also flüsterte ich (und auch das ist leider wirklich wahr): "Heeey, da ist eine riesige Schlange direkt neben dir!" Natürlich flüsterte ich auf Italienisch; diese Smaragdeidechse war noch nie außerhalb unseres Dorfes gewesen, also war mir klar, dass sie kein Deutsch verstand ;-) . Keine Reaktion. Schliesslich, in einem letzten verzweifelten Versuch, schüttelte ich den Ast, auf dem sie saß, und nun öffnete sie etwas benommen ihre Augen. Das Zielobjekt meiner ungeschickten Rettungsversuche brauchte eine knappe Sekunde, um zu begreifen, dass da ein zweibeiniges, riesiges Monster an seinem Sonnenplätzchen rüttelte, aber dann brachte es sich mit einem Hechtsprung in die Sicherheit des Blätterdickichts - unmittelbar verfolgt von der Schlange! Zornnattern sind extrem flinke Jäger, und duch meine idiotische Aktion hatte ich meinen Schützling - der keine Ahnung hatte, dass überhaupt eine Schlange auf ihn lauerte - vermutlich erst recht ins Verderben gestürzt. Um ehrlich zu sein, ich habe keine Ahnung, wie das Drama im dichten Gebüsch ausging. Jägerin und Gejagte verschwanden gleichzeitig unter lautem Geraschel, dann war es still; ich hörte nicht das geringste Geräusch, das auf einen Kampf hingedeutet hätte (was nicht bedeuten muss, dass die Smaragdeidechse entkam).


Als ich etwa eine Stunde später zu der Heckenkirsche zurückkam, entdeckte ich ein grosses Smaragdeidechsenännchen, von dem ich mir (fast) sicher bin, dass es dasjenige war, das ich zu retten versucht hatte. Es bewegte sich nicht, als ich mich ihm näherte, und war entweder vor Angst komplett gelähmt (bzw. vor Schock, nachdem es nur knapp dem Tod entronnen war), oder es verliess sich einfach auf seine Tarnung (was für die Art nicht untypisch ist), in der Hoffnung, ich würde es nicht sehen. Auf jeden Fall ermöglichte es mir die besten Nah- und sogar Makroaufnahmen, die ich je von einer Smaragdeidechse machen konnte (wer Interesse hat, findet die besten Fotos hier).



Natürlich rede ich mir bis heute ein, dass Herr Smaragdeidechse aus Dankbarkeit so für mich posiert hat ;-)

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